CfP: Epistemische Kämpfe in polarisierten Diskursen. Dominanz und Marginalisierung von (wissenschaftlichem) Wissen in der Öffentlichkeit, oder: Auf der Suche nach dem verlorenen Common Ground?

Viele öffentliche Debatten zeugen von einer vermeintlichen Spaltung der Gesellschaft. Solche polarisierten Diskurse sind epistemische Kämpfe, in denen Deutungsmacht über Wissen ausgehandelt wird. Hierbei geht es „um Einfluss, um Deutungshoheiten und davon abgeleitet vor allem auch um (finanzielle und personelle) Ressourcen“ (Wengeler 2006, 158). Dabei werden einige Positionen als die dominanten dargestellt, andere werden marginalisiert. Auf solche Marginalisierungsprozesse wirken schließlich auch soziale und journalistische Medien ein, in denen (wissenschaftliches) Wissen verhandelt wird. Wie insbesondere während der Corona-Pandemie deutlich wurde, wird in diesen mediatisierten Diskursen oft zum Diskussionsgegenstand gemacht, was gute und was schlechte wissenschaftliche Positionen, Theorien und Methoden sind – und wer legitimiert sei, als Fachperson am Diskurs teilzuhaben. Beispiele stellen eskalierte Debatten um Impfen und Maskenpflicht, um die sogenannte Gendersprache, die Energiewende (z.B. der Streit um die Wärmepumpe) oder Migration dar.

In polarisierten Diskursen lässt sich beobachten, wie komplexe Themen auf Entweder-Oder-Fragen reduziert und durch Übertreibungen dichotomisch zugespitzt werden, eine provokative und emotionalisierte Sprache Aufmerksamkeit erzeugt und die Lagerbildung in eine degradierte Out-Group und eine identifikatorische In-Group befördert (Fortuna 2019, 92-94). Einzelne Gruppierungen von Forschenden erscheinen als Denkkollektive (Fleck 1980 [1935]), als communities of practice (Wenger 1998), deren Grundannahmen einander diametral entgegenstehen (vgl. Kalwa 2018). Ein Common Ground mit den „Anderen“ oder „Feinden“ – im Sinne der Annahme, grundlegende Einstellungen, Überzeugungen oder Tatsachenbehauptung würden von den Diskurspartner:innen geteilt – besteht kaum noch oder wird zurückgewiesen. Das erschwert die Verständigung und kann Polarisierung intensivieren.

Polarisierte Diskurse sind daher eine Herausforderung für interne wie auch externe wissenschaftliche Kommunikationspraktiken (Kramer / Gottschling 2020), die derzeit durch die zunehmende Digitalisierung und den Einsatz von KI ohnehin einem schnellen Wandel unterliegen (vgl. Leßmöllmann 2020, 677).  Denn widersprechende Annahmen, Theorien oder auch Ergebnisse können in polarisierten Kontexten genutzt werden, um das Vertrauen in Wissenschaft auszuhöhlen (Oreskes / Conway 2010). Wenn epistemische Kämpfe an Machtgefälle zwischen (wahrgenommenen und tatsächlichen) dominanten und marginalisierten Gruppen gekoppelt sind, kann es außerdem zu epistemischen Ungerechtigkeiten (Fricker 2007) kommen. Zudem zeigen demokratische Gesellschaften eine Tendenz zur Moralisierung von Wissenschaft, die von Teilen der Gesellschaft vertreten, von Anderen aber vehement abgelehnt wird (Merkel 2021). Daran geknüpft wird die Verhandlung darüber, was als sagbar gilt und was nicht, und es kommt zu strategischen Inszenierungen von Polarisierung. Epistemische Kämpfe erscheinen dann immer wieder auch als Sprachkämpfe (Lobin 2021). Somit wird „nicht nur mittels, sondern auch von Diskursen Macht ausgeübt“ (Niehr 2022). 

Die Tagung widmet sich epistemischen Kämpfen in polarisierten Wissensdiskursen in der Öffentlichkeit, auch in ihrer Wirkung auf die interne Wissenschaftskommunikation. Sie will diverse disziplinäre Perspektiven zusammenbringen (etwa Sprach- und Kommunikationswissenschaft, Rhetorik und Psychologie, Soziologie und Geschichte) und sich auf kommunikative Phänomene und Sprachhandlungen fokussieren, gerne auch in Fallstudien. Ein Schwerpunkt sind Kämpfe um Sprache und Sprachverwendung, insbesondere die Debatte um Zweigeschlechtlichkeit und Gender in ihren Auswirkungen auf Sprachregelungen. Daneben können alle polarisierten Wissensdomänen in den Blick kommen: Sprachpolitik (z.B. Rechtschreibung), Pandemie-Politik, Impfen, Klima und Nachhaltigkeit, Energiewende, Vegetarismus/Veganismus, etc. – gerne auch jenseits der deutschen Diskurse. Wir möchten Sie auch einladen, historische Fallstudien zu vergangenen wissens- und wissenschaftsgetriebenen öffentlichen Polarisierungen beizutragen und dabei z.B. der Frage nachzugehen, ob und wie die „Science Wars“ der 1990er Jahre bis heute fortwirken.

Folgende Fragen können eine Rolle spielen:
– Untersuchungen zum Common Ground z.B. aus rhetorischer, linguistischer oder psychologischer Perspektive: Braucht Wissens- oder Wissenschaftskommunikation einen Common Ground? Inwiefern erschwert ein nicht vorhandener Common Ground epistemische Kämpfe? Oder drehen sich epistemische Kämpfe gerade um die Etablierung divergierender/alternativer Common Grounds?  Ist Common Ground (Clark 1996) eine notwendige Voraussetzung für Wissensdiskurse? Muss Common Ground immer vorausgesetzt werden oder wird Common Ground aufgerufen und hergestellt?  Wie kann Wissen kommuniziert werden, wenn in polarisierten Debatten bzw. Arenen (Mau et. al. 2023, 37-69) kein Common Ground besteht, d. h. gemeinschaftliche Grundannahmen fehlen oder gar abgewertet und zurückgewiesen werden?
– Inwiefern äußern sich epistemische Kämpfe als Sprachkämpfe (Lobin 2021)? Wie kann Konsens und Dissens methodisch erfasst werden? Wie lassen sich inszenierte Polarisierungen untersuchen? Wie erfolgt Konsensherstellung von vermeintlich dichotomen Positionen in polarisierten Diskursen? Inwiefern ist die vielgeäußerte (und umstrittene) Diagnose einer „Spaltung“ der Gesellschaft Teil des Kampfes um die Deutungshoheit?
– In welchem Zusammenhang stehen Kommunikationsmedien und Kommunikationspraktiken in polarisierten Diskursen? Wie wirken Kommunikationsmedien auf mediatisierte Polarisierungsprozesse ein? Welche Rolle spielt hier insbesondere der Journalismus?
– Inwiefern wird praktische Wissenschaftskommunikation in polarisierten Debatten erschwert? Welchen (sprachlichen) Techniken der Polarisierung wie bspw. Simplifizierung, Übertreibung, Provokation, Emotionalisierung und Degradierung (Fortuna 2019, 92-94) begegnet Wissenschaftskommunikation? Wie kann Wissenschaftskommunikation dennoch Gehör finden, wenn es zu keinem sachlichen Austausch von Argumenten kommt, sondern zu einem pauschalen Abwerten von Positionen, zu persönlichen Angriffen gegen eine vermeintliche Out-Group und zu einer identifikatorischen Zuordnung zu einer In-Group? Wo stößt Wissenschaftskommunikation auf „Triggerpunkte“, also Bereiche des öffentlichen Diskurses mit besonders großem Erregungspotential (vgl. Mau et. al. 2023, 27), und wie geht sie damit um?
– Wir leben nicht in der ersten polarisierten Diskursphase mit epistemischen Kämpfen (s. science wars, Jasanoff 2000): Wie unterscheiden sich heutige Polarisierungen von damaligen (z.B. Rolle der Digitalisierung, Veränderungen im gesellschaftlichen geteilten Wissen)? Gibt die historische Dimension Einordnungsmöglichkeiten für die heutige Situation?

Mögliche Formate:
– Tagungsvortrag: 20 Minuten mit 10 Minuten Diskussion
– Panel von 90 Minuten: Moderation einer Podiumsdiskussion mit etwa drei Vorträgen oder Impulsreferaten zu einem gemeinsamen Oberthema, Austausch mit dem Publikum z.B. als Fishbowl
– Poster: Projektvorstellung, empirische Ergebnisse, Case Studies, thesenhafte Impulse etc.

Bitte reichen Sie Ihre Beitragsvorschläge in Form eines Extended Abstracts über das Konferenztool EasyChair ein: https://easychair.org/my/conference?conf=kokokomtagung2025
– Tagungsvortrag: max. 6.000 Zeichen (inklusive Bibliographie, exklusive Anhang wie Abbildungen und Tabellen)
– Paneleinreichungen: bitte mit Paneltitel, Beschreibung von Thema und Konzept: max. 4.000 Zeichen sowie Titel und kurzem Abstract für jeden Vortrag (je max. 1000 Zeichen).
– Poster: max. 4000 Zeichen.

Deadline für die Einreichung der Abstracts ist der 01.10.2024.
Mitteilung über die Annahme: Mitte November 2024

Karlsruhe, 2. bis 4. April 2025

Die Tagung wird ausgerichtet vom Projekt KoKoKoM („Konflikt und Konsens in der Wissenschaftskommunikation: Über Geschlecht und Gender streiten“), ein Kooperationsprojekt zwischen dem Seminar für Allgemeine Rhetorik und dem Englischen Seminar der Universität Tübingen, dem Department für Wissenschaftskommunikation des KIT und dem Leibniz-Institut für Deutsche Sprache (https://kokokom.de/). Gefördert wird das Projekt vom Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen der Förderlinie „Wissenschaftskommunikation erforschen“. Das Projekt will Mechanismen identifizieren, die zur Herausbildung von gesellschaftlichen Konflikten rund um wissenschaftliche Forschungsergebnisse führen und in der Folge Verfahren zur Erzeugung und Stärkung einer gesellschaftlichen Verständigung entwickeln. Mit methodischen Ansätzen aus der Rhetorik und Linguistik werden polarisierende Diskurse um das Thema Geschlecht und Gender in der Wissenschaftskommunikation empirisch untersucht.

Kontakt

Dr. Andressa Costa (andressa.costa@kit.edu)


https://kokokom.de/wp-content/uploads/2024/06/CfP-Epistemische-Kaempfe_KIT.pdf


Epistemische Kämpfe in polarisierten Diskursen., In: H-Soz-Kult, 03.07.2024,

<www.hsozkult.de/event/id/event-145147>.


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